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  Der Nazivirus

Robert C. Koehler

Ich nenne es den Nazivirus.

Es stellt sich heraus, dass wir, sogar während wir die Nazis in Nürnberg wegen ihres barbarischen Verhaltens strafrechtlich verfolgten, einschließlich ihrer berüchtigten medizinischen Experimente mit Insassen der Todeslager, unsere eigenen medizinischen Experimente an einer ungeschützten und ahnungslosen Bevölkerung durchgeführt haben: zwischen 1946 und 1948 infizierten medizinische Forscher im Dienst des Gesundheitsdienstes der Vereinigten Staaten von Amerika absichtlich fast 700 Gefangene und psychiatrische Patienten in Guatemala mit Syphilis und Gonorrhöe, um die Wirkung von Penicillin auf diese Krankheiten zu studieren.

Was macht ein Monster aus? Vielleicht nicht mehr als gute Absichten und ein Krieg, in dem gekämpft wird – im gegebenen Fall ein „Krieg“ gegen Geschlechtskrankheiten – und, ja ja, nahezu absolute Macht über eine Gruppe von Menschen, die in solchen Fällen so leicht verzichtbar sind, zumindest im Vergleich zu dem, was wir aus ihrer unwissenden oder erzwungenen Teilnahme an einem wissenschaftlichen Experiment lernen können. Ihr Leiden, ihr Tod sind eine Kleinigkeit im Vergleich zum menschlichen Fortschritt. Fragen Sie nur Dr. Mengele.

Susan Reverby, Professorin für Frauenfragen am Wellesley College und Expertin für das berüchtigte 40 Jahre dauernde Tuskegee-Experiment entdeckte Beweise für das Forschungsprojekt in Guatemala, als sie sich mit einigen Schriften im Nachlass von Dr. John Cutler befasste, der, wie sich herausstellte, an beiden Studien beteiligt war. Erst vor kurzem veröffentlichte sie ihre Erkenntnisse, was beschämte Entschuldigungen von Außenministerin Hillary Clinton und Gesundheitsministerin Kathleen Sebelius bei der Regierung von Guatemala und den „hispanischen Bewohnern der Vereinigten Staaten von Amerika“ auslöste.

Der Nazivirus ist nicht etwas, was mit den Nazis anfing und aufhörte. Wäre das der Fall, so wäre der Nürnberger Kodex, der die ethischen Grenzen von wissenschaftlichen oder medizinischen Experimenten definiert, nicht nötig gewesen. Dieser wurde vom Nürnberger Gerichtshof im Jahr 1949 nach dem „Ärzteprozess“ beschlossen, nicht um uns vor den Nazis, sondern vor uns selbst zu schützen.

„Die freiwillige Zustimmung der menschlichen Versuchsperson ist absolut erforderlich,“ beginnt der Kodex. „Das bedeutet, dass die betreffende Person rechtsfähig sein muss, um ihre Zustimmung geben zu können; in der Lage sein soll, frei entscheiden zu können, ohne den Einsatz irgendwelcher Elemente von Gewalt, Betrug, Täuschung, Nötigung, Übervorteilung ...“

Das ist der humanitäre Mindeststandard des guten Verhaltens für die Mächtigen, und wenn wir darunter fallen, begeben wir uns auf das matschige Gebiet des Prä-Nazismus, was dazu führen kann, dass unseren Mitmenschen und der Menschheit als Ganzem Schaden zugefügt wird auf einer Stufe – im Zeitalter der Atomwaffen – die nicht einmal die Nazis erreicht haben.

Die kürzliche Enthüllung unserer Forschungen an Menschen in Guatemala vor 60 und mehr Jahren ruft nach einer gründlichen Untersuchung, wer wir sind,  nach der Aufarbeitung der öffentlichen Aufzeichnungen, und nach der Öffnung vergessener oder geheimer Dokumente, die enthüllen können, dass die Wahrheit unserem makellosen Selbstbild einer anständigen, der Freiheit verpflichteten Gesellschaft widerspricht. Wir müssen unsere eigenen Geheimnisse kennen lernen – und uns über unsere Tendenz im Klaren sein, diejenigen zu entmenschlichen, über die wir ungeheure Macht ausüben. 

Und die bekannte Liste ist erschreckend: „Während der letzten 50 Jahre waren hunderttausende Militärangehörige beteiligt an Menschenversuchen und anderen beabsichtigten Belastungen, die vom Verteidigungsministerium durchgeführt wurden, oft ohne Wissen oder Zustimmung der Betroffenen.“ 

Mit diesen Worten beginnt ein Bericht aus dem Jahr 1994 für den Senatsausschuss für Angelegenheiten der Veteranen. Die angeführten Beispiele beinhalten unter anderem „tausende Veteranen des Zweiten Weltkriegs, die ursprünglich zustimmten, im Gegenzug für Extraurlaub ‚Sommerkleidung’ zu testen , und die sich dann in Gaskammern wieder fanden, in denen die Wirkung von Senfgas und Lewisit erprobt wurde.“ Und Veteranen des Golfkriegs I, die Interviewern berichteten, „es sei ihnen befohlen worden, sich im Lauf der Operation Desert Shield (Wüstenschild) versuchsweise impfen zu lassen oder ins Gefängnis zu gehen.“  

Am erschreckendsten von allen ist unsere Geschichte der Experimente mit Strahlung und Atomwaffen, denen Dr. Joseph G.Hamilton, ein Angestellter der Atomenergiekommission, 1950 nachsagte, sie „hätten etwas von Buchenwald an sich.“

Diese Experimente umfassen laut einem Artikel in The Progressive im Februar 1994: eine Studie an der Vanderbilt Universität in den späten 1940ern, in denen die Forscher „751 schwangeren Frauen, die die kostenlose Versorgung an einer pränatalen Klinik aufsuchten, radioaktive Pillen verabreichten“; die Verabreichung von „radioaktivem Eisen und Kalzium in ihrem Frühstücksmüsli“ an 19 geistig behinderte Knaben an einer staatlichen Schule in Fernald, Mass. von 1946 bis 1956; und, von 1963 bis in die frühen 1970er Tests, in denen über 130 Insassen von Staatsgefängnissen in Oregon und Washington, die keinerlei Warnung bezüglich der Gefahren erhalten hatten, hohen Bestrahlungsdosen an ihren Hoden ausgesetzt wurden.

Das sind nur einige wenige Beispiele. Wenn wir das Tor ein wenig weiter öffnen – etwa die Politik des Kalten Krieges mit einbeziehen – dann weitet sich der moralische Relativismus exponentiell aus. Überirdische Atomversuche über Jahrzehnte hinweg haben zum Beispiel Millionen amerikanischer Versuchskaninchen involviert.

Die verzichtbaren Menschen sind in allen Fällen die Machtlosen: die Armen, die geistig Kranken, Gefangene, Soldaten – und generell nichtsahnende zivile Bevölkerungen. Sie bekommen nie die Chance, sich auf Artikel 9 des Kodex zu berufen: „Im Verlauf des Experiments muss die Versuchsperson die Freiheit haben, das Experiment abzubrechen, wenn sie in einen körperlichen oder geistigen Zustand kommt, in dem ihr die Fortsetzung des Experiments unmöglich erscheint.“

 
     
  Erschienen am 7. Oktober 2010, Robert Koehlers Artikel erscheinen u.a. bei HUFFINGTON POST  
     
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